Veröffentlicht am Mai 12, 2024

Entgegen der Annahme, Wut und Frust seien im Job unprofessionell, sind sie in Wahrheit wertvolle Datensignale für Ihre Karriereentwicklung.

  • Emotionen wie Wut oder Frust weisen fast immer auf unerfüllte Bedürfnisse, überschrittene Grenzen oder verletzte Werte hin.
  • Ein konstruktiver Umgang mit diesen Signalen stärkt die psychologische Sicherheit im Team und fördert nachhaltig Innovation.

Empfehlung: Analysieren Sie die Ursache Ihrer Emotion systematisch, anstatt sie zu unterdrücken, um souverän und fundiert zu handeln.

Die E-Mail eines Kollegen trieft vor passiver Aggressivität. Im Meeting wird Ihre Idee mit einem knappen Satz abgetan. Sie spüren, wie die Hitze in Ihnen aufsteigt, der bekannte Kloß im Hals. Der erste Impuls im professionellen Umfeld lautet meist: herunterschlucken, lächeln, sachlich bleiben. Schließlich gilt das Zeigen von Wut oder Frust als unprofessionell, als Zeichen von Schwäche oder mangelnder Kontrolle. Wir haben gelernt, tief durchzuatmen, bis zehn zu zählen und unsere Gefühle zu verbergen, um den professionellen Schein zu wahren.

Doch dieser Ansatz hat einen fundamentalen Fehler: Er ignoriert die wichtigste Funktion von Emotionen. Was wäre, wenn diese Wut kein Störfaktor, sondern ein präziser Sensor wäre? Ein wertvolles Datensignal, das Ihnen exakt anzeigt, wo ein Prozess hakt, ein persönlicher Wert verletzt oder eine Grenze überschritten wurde. Emotionale Intelligenz bedeutet nicht, gefühllos zu sein, sondern die Sprache der eigenen Gefühle zu verstehen und sie als Kompass für kluge Entscheidungen zu nutzen. Es geht um den Wandel von reaktiver Emotionalität zu proaktiver emotionaler Souveränität.

Dieser Artikel liefert Ihnen keine oberflächlichen Tipps, sondern einen psychologisch fundierten Rahmen, um Wut und Frust im deutschen Arbeitskontext zu dekodieren und konstruktiv zu nutzen. Sie lernen, wie Sie die Botschaft hinter dem Gefühl entschlüsseln, in akuten Situationen einen kühlen Kopf bewahren und langfristig eine Kultur schaffen, in der ehrliches Feedback nicht nur möglich, sondern erwünscht ist. Es ist an der Zeit, Emotionen nicht länger als Belastung, sondern als Ihren stärksten Verbündeten für eine erfolgreiche und gesunde Karriere zu betrachten.

Um diese Fähigkeiten Schritt für Schritt aufzubauen, gliedert sich dieser Leitfaden in verschiedene praxisnahe Bereiche. Die folgende Übersicht zeigt Ihnen den Weg von der unmittelbaren Selbstanalyse bis hin zur souveränen Kommunikation im Team und mit Vorgesetzten.

Fakt oder Interpretation: Warum macht Sie die E-Mail des Kollegen wirklich wütend?

Die Wurzel starker emotionaler Reaktionen liegt selten im objektiven Fakt, sondern fast immer in unserer Interpretation. Eine E-Mail mit dem Satz „Die Deadline ist morgen“ ist auf der Sachebene eine neutrale Information. Doch unsere Wut entzündet sich nicht an der Tatsache selbst, sondern an dem, was wir zwischen den Zeilen zu hören glauben: einen Vorwurf („Du bist zu langsam“), eine Herabwürdigung („Ich muss dich kontrollieren“) oder einen versteckten Appell („Mach endlich deine Arbeit“). Dieser Mechanismus lässt sich präzise mit dem Kommunikationsquadrat (oder Vier-Ohren-Modell) des deutschen Psychologen Friedemann Schulz von Thun erklären.

Jede Nachricht enthält vier Botschaften gleichzeitig: eine Sachinformation, eine Selbstkundgabe (was der Sender über sich preisgibt), einen Beziehungshinweis (was er vom Empfänger hält) und einen Appell (was er vom Empfänger will). Wut ist oft eine Reaktion des „Beziehungsohrs“, das sich angegriffen oder nicht respektiert fühlt. Der erste Schritt zur emotionalen Souveränität ist daher ein bewusster Dekodierungs-Prozess: Trennen Sie aktiv, was gesagt wurde (Sachebene), von dem, was Sie gehört zu haben glauben (Beziehungsebene/Appell). Fragen Sie sich: Welche Annahme über die Absicht des Senders löst meine Wut aus? Ist diese Annahme ein Fakt oder eine mögliche, aber unbewiesene Interpretation?

Oft offenbart dieser Prozess, dass der Sender möglicherweise nur seinen eigenen Stress preisgibt (Selbstkundgabe) und gar keinen Angriff beabsichtigt. Bei Unklarheiten ist der direkteste Weg, eine Interpretation in eine Frage umzuwandeln und nachzufragen („Ich lese aus deiner Nachricht eine gewisse Dringlichkeit heraus. Gibt es etwas, bei dem ich dich unterstützen kann?“), anstatt in einen emotionalen Gegenangriff zu gehen. So verwandeln Sie einen potenziellen Konflikt in eine kooperative Klärung.

Die 90-Sekunden-Regel: Wie verhindern Sie einen Wutausbruch, wenn Sie provoziert werden?

Wenn wir uns provoziert fühlen, schüttet unser Gehirn Stresshormone wie Adrenalin aus. Dieser biochemische Prozess, der uns in den „Kampf-oder-Flucht“-Modus versetzt, ist rein physiologisch. Die Neurowissenschaftlerin Dr. Jill Bolte Taylor hat herausgefunden, dass es etwa 90 Sekunden dauert, bis diese chemische Welle den Körper durchlaufen hat und abebbt. Alles, was über diese 90 Sekunden hinausgeht, ist keine automatische Reaktion mehr, sondern eine bewusste oder unbewusste Entscheidung, am Gefühl festzuhalten und es gedanklich neu zu befeuern.

Das Ziel ist also nicht, die Emotion zu unterdrücken, sondern eine bewusste Pause zwischen Reiz und Reaktion zu schaffen – eine Pause von mindestens 90 Sekunden. In dieser Zeitspanne geht es darum, sich aus der emotionalen Überflutung zu lösen und wieder im Hier und Jetzt zu verankern. Diskrete Grounding-Techniken sind hierfür ideal, da sie im deutschen Büroalltag unauffällig angewendet werden können.

Geschäftsperson wendet diskrete Grounding-Techniken während eines Meetings an

Wie die Abbildung andeutet, können solche Techniken helfen, die körperliche Anspannung zu lösen. Anstatt auf die Provokation zu reagieren, konzentrieren Sie sich auf physische Empfindungen. Probieren Sie eine der folgenden Methoden aus, wenn Sie das nächste Mal unter Druck geraten:

  • Fersen in den Boden drücken: Drücken Sie beide Fersen fest in den Boden. Dies ist unter jedem Konferenztisch möglich und erdet Sie sprichwörtlich.
  • Isometrische Anspannung: Spannen Sie Ihre Oberschenkelmuskulatur für fünf Sekunden fest an und lassen Sie dann abrupt los.
  • Drei-Sinne-Technik: Benennen Sie für sich innerlich drei Dinge, die Sie sehen, drei Geräusche, die Sie hören, und drei körperliche Empfindungen, die Sie gerade spüren (z. B. den Stuhl unter Ihnen).

Diese Techniken lenken die Aufmerksamkeit vom emotionalen Sturm auf neutrale, körperliche Sinneswahrnehmungen. Sie geben Ihrem Nervensystem das Signal, dass keine akute Gefahr besteht, und ermöglichen es Ihnen, nach den 90 Sekunden wieder überlegt statt impulsiv zu handeln.

Zu nett für den Aufstieg? Warum Empathie die wichtigste Leadership-Skill 2024 ist

Das alte Klischee vom rücksichtslosen Manager, der über Leichen geht, ist ein Auslaufmodell. In der modernen Arbeitswelt ist Empathie keine „nette“ Zusatzqualifikation mehr, sondern eine knallharte Kernkompetenz für Führungserfolg. Empathie wird dabei oft fälschlicherweise mit Mitleid oder reiner Nettigkeit gleichgesetzt. In Wahrheit ist sie die Fähigkeit, die emotionalen Datensignale anderer zu erkennen, zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Es ist die Kompetenz, die Perspektive von Teammitgliedern und Kunden wirklich nachzuvollziehen.

Diese Fähigkeit hat direkte, messbare Auswirkungen auf den Geschäftserfolg. So zeigt sich, dass emotional intelligente Unternehmen eine deutlich höhere Leistung erzielen. Eine Studie belegt beispielsweise, dass Unternehmen, die emotionale Intelligenz fördern, eine um 37 % höhere Kundenzufriedenheit aufweisen als Unternehmen, die dies nicht tun. Eine empathische Führungskraft versteht die Frustration eines Kunden nicht als Angriff, sondern als Hinweis auf einen fehlerhaften Prozess oder ein unklares Produktversprechen – und kann so gezielt für Verbesserung sorgen.

Auch im Werben um die besten Talente ist Empathie entscheidend. Michael Page Deutschland, eine führende Personalberatung, unterstreicht diese Bedeutung:

Empathie erweist sich auch dann als äußerst nützlich, wenn es darum geht, Nachwuchstalente anzuheuern und zu halten.

– Michael Page Deutschland, Warum emotionale Intelligenz im Job so wichtig ist

Eine Führungskraft, die den Frust eines Mitarbeiters über unklare Ziele wahrnimmt und anspricht, schafft Vertrauen und psychologische Sicherheit. Wer sich hingegen über die Gefühle seines Teams hinwegsetzt, riskiert innere Kündigung und den Verlust wertvoller Mitarbeiter. Empathie ist somit kein Soft-Skill, sondern ein strategisches Werkzeug für Mitarbeiterbindung, Kundenzufriedenheit und letztendlich nachhaltigen Unternehmenserfolg.

„Good Vibes Only“: Warum ständiges Lächeln Ihr Team krank macht

Die Forderung nach einer rein positiven Arbeitsatmosphäre, oft unter dem Motto „Good Vibes Only“, klingt zunächst verlockend. Doch in der Praxis führt dieser Zwang zur Positivität zu einem gefährlichen Phänomen: der emotionalen Dissonanz. Dieser Begriff beschreibt die psychische Belastung, die entsteht, wenn wir eine Emotion zeigen müssen, die wir nicht fühlen. Das ständige Aufsetzen eines Lächelns, während innerlich Frust oder Ärger brodelt, ist nicht nur anstrengend, sondern nachweislich gesundheitsschädlich und erhöht das Burnout-Risiko. Lange Zeit wurden Emotionen in der deutschen Arbeitswelt als „Gefühlsduselei“ abgetan und Sachlichkeit als oberstes Gebot gepriesen.

Dieser Druck, negative Gefühle zu unterdrücken, schafft eine Kultur der Oberflächlichkeit, in der echte Probleme nicht mehr angesprochen werden. Ein Mitarbeiter, der seinen Frust über einen ineffizienten Prozess nicht äußern darf, wird diesen Prozess nicht verbessern. Er wird im schlimmsten Fall resignieren und nur noch „Dienst nach Vorschrift“ machen. Eine Kultur der toxischen Positivität erstickt Innovation im Keim, denn Innovation entsteht oft aus konstruktiver Unzufriedenheit mit dem Status quo.

Der Gegenentwurf ist eine Kultur des konstruktiven Dissenses, die auf psychologischer Sicherheit basiert. Hier werden negative Emotionen nicht als Störung, sondern als wichtige Hinweise verstanden. Der folgende Vergleich, basierend auf Erkenntnissen des Barmer Campus-Coach, verdeutlicht den Unterschied:

Toxische Positivität vs. Konstruktiver Dissens
Toxische Positivität Konstruktiver Dissens
Emotionen werden unterdrückt Emotionen werden als Hinweise verstanden
Probleme werden ignoriert Probleme werden adressiert
Führt zu ’stillem Dienst nach Vorschrift‘ Führt zu Innovation und Verbesserung
Erhöht Burnout-Risiko Stärkt psychologische Sicherheit

Ein Team, das gelernt hat, Frustration oder Kritik respektvoll zu äußern und anzunehmen, ist weitaus resilienter und leistungsfähiger. Es geht nicht darum, sich gegenseitig anzuschreien, sondern darum, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem auch unangenehme Wahrheiten auf den Tisch kommen dürfen, um gemeinsam daran zu wachsen. Eine solche Kultur zu etablieren, ist eine der wichtigsten Aufgaben moderner Führung.

Nach der Absage: Wie lange dürfen Sie trauern, bevor Sie den nächsten Pitch starten?

Ein geplatzter Deal, eine Projekt-Absage oder ein verlorener Pitch – solche Niederlagen sind ein primärer Auslöser für tiefen Frust und Enttäuschung im Berufsleben. Der Impuls, den Misserfolg schnell zu vergessen und direkt zum nächsten Projekt überzugehen, ist verständlich. Doch wer den Frust einfach unterdrückt, beraubt sich und sein Team einer der wertvollsten Lernchancen. Ein Misserfolg ist ein extrem datenreiches Ereignis. Die Kunst besteht darin, die emotionale Verarbeitung zuzulassen, aber in einen strukturierten Analyseprozess zu kanalisieren.

Die Frage ist also nicht, *ob* man trauern darf, sondern *wie* man diesen Prozess konstruktiv gestaltet. Eine effektive Methode ist die Etablierung eines sogenannten „Failure Portfolios“. Anstatt den Misserfolg zu tabuisieren, wird er systematisch dokumentiert und analysiert. Dies geschieht idealerweise in einem Projekt-Post-Mortem, einer Teamsitzung, in der explizit Raum für die Äußerung von Frustration geschaffen wird. Ziel ist es, von der emotionalen Ebene („Ich bin wütend/enttäuscht“) zur analytischen Ebene („Was genau hat zu diesem Ergebnis geführt?“) zu gelangen.

Das Ziel ist, aus jedem Rückschlag konkrete, umsetzbare Erkenntnisse für die Zukunft zu gewinnen. Anstatt im vagen Gefühl des Scheiterns zu verharren, schafft man eine klare Handlungsbasis für den nächsten Anlauf. Dies stärkt nicht nur die fachliche Kompetenz, sondern auch die Resilienz des gesamten Teams.

Ihr Aktionsplan: Das Failure-Portfolio als Lerninstrument

  1. Faktische Gründe dokumentieren: Halten Sie objektiv fest, was passiert ist. Gab es Budget-Einschränkungen, einen stärkeren Konkurrenten oder war das Timing ungünstig?
  2. Subjektives Feedback trennen: Trennen Sie persönliche Meinungen oder vage Kritik („hat mir nicht gefallen“) von konkreten, sachlichen Feedbackpunkten.
  3. Projekt-Post-Mortem durchführen: Planen Sie eine Teamsitzung mit einem klaren Zeitrahmen und der expliziten Erlaubnis, Frustration und Enttäuschung zu äußern, bevor die Analyse beginnt.
  4. Konkrete Learnings ableiten: Identifizieren Sie 3 bis 5 spezifische Verbesserungspunkte für den nächsten Prozess, Pitch oder das nächste Projekt.
  5. Zeitrahmen setzen: Planen Sie bewusst einen festen, kurzen Zeitraum (z. B. maximal 48 Stunden) für die rein emotionale Verarbeitung ein, bevor der analytische Prozess startet.

Debatte oder Dialog: Welches Gesprächsformat bringt Ihr Team wirklich voran?

Meetings sind oft eine Quelle von Frustration. Häufig liegt das nicht am Thema, sondern am unbewusst gewählten Gesprächsformat. Die meisten Diskussionen in Unternehmen sind keine Dialoge, sondern Debatten. In einer Debatte geht es ums Gewinnen. Man verteidigt die eigene Position, versucht, die Argumente des anderen zu entkräften und die eigene Meinung durchzusetzen. Eine Debatte ist ein Nullsummenspiel: Am Ende gibt es einen Gewinner und einen Verlierer. Der Verlierer geht oft frustriert aus dem Gespräch, seine Perspektive wurde nicht integriert, und der Teamzusammenhalt leidet.

Der Dialog verfolgt ein völlig anderes Ziel. Hier geht es nicht darum, die eigene Position zu verteidigen, sondern darum, gemeinsam ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu erkunden, um zu einer neuen, gemeinsamen Erkenntnis zu gelangen. Im Dialog hört man zu, um zu verstehen, nicht um zu antworten. Es ist ein Positivsummenspiel, bei dem alle Beteiligten durch neue Einsichten gewinnen. Frustrationen und unterschiedliche Meinungen werden nicht als Angriff, sondern als wertvolle Information betrachtet, die dem Gesamtbild hinzugefügt wird.

Um von der Debatte zum Dialog zu gelangen, braucht es individuelle Fähigkeiten und eine entsprechende Teamkultur. Eine hohe Frustrationstoleranz des Einzelnen ist hierbei essenziell. Wer Kritik an der eigenen Idee nicht persönlich nimmt, sondern als Beitrag zur Verbesserung versteht, arbeitet besser im Team und löst Konflikte konstruktiv. Der folgende Vergleich, der auf dem Portal Kantaa.de beschrieben wird, macht den Unterschied deutlich:

Debatte als Nullsummenspiel vs. Dialog als Positivsummenspiel
Debatte (Nullsummenspiel) Dialog (Positivsummenspiel)
Ziel: Eigene Position durchsetzen Ziel: Gemeinsame Lösung finden
Gewinner und Verlierer Alle gewinnen durch neue Erkenntnisse
Verteidigung der eigenen Meinung Erkundung verschiedener Perspektiven
Oft frustrierend für ‚Verlierer‘ Förderung des Teamzusammenhalts

Als Führungskraft oder Teammitglied können Sie diesen Wandel aktiv fördern: Etablieren Sie Gesprächsregeln, die das Zuhören betonen, fassen Sie die Perspektiven anderer zusammen, bevor Sie Ihre eigene darlegen, und stellen Sie klärende Fragen („Hilf mir zu verstehen, warum dieser Punkt für dich so wichtig ist“), anstatt Gegenargumente zu formulieren.

Wandplakat oder Realität: Woran erkennen Mitarbeiter, ob Unternehmenswerte wirklich zählen?

Kaum etwas erzeugt mehr zynischen Frust bei Mitarbeitern als die Diskrepanz zwischen hochtrabend formulierten Unternehmenswerten an der Wand und dem gelebten Arbeitsalltag. Wenn „Respekt“ proklamiert wird, aber Meetings von Unterbrechungen geprägt sind, oder „Innovation“ gefordert wird, aber Fehler bestraft werden, entsteht eine Werte-Verletzung. Dieser Frust ist ein präzises Datensignal dafür, dass die offizielle Kultur nicht der realen entspricht. Mitarbeiter spüren instinktiv, ob Werte nur ein Marketing-Instrument oder eine tatsächliche Handlungsanleitung sind.

Doch woran erkennt man den Unterschied? Es sind die kleinen, alltäglichen Reaktionen des Managements und die etablierten Prozesse, die die wahre Kultur offenbaren. Ein Lackmustest ist die Reaktion auf geäußerte Frustration oder Kritik. Wird ein Mitarbeiter, der einen Missstand anspricht, als „Nörgler“ abgetan oder wird sein Feedback als Chance zur Verbesserung gesehen? Der „Frustrations-Test“ hilft bei der Einordnung:

  • Reaktion auf Meldungen: Wie geht das Management mit frustrierten Mitarbeitern um? Wird zugehört oder abgewiegelt?
  • Budget-Allokation: Wird Geld in die Hand genommen für Trainings zu konstruktiver Kommunikation oder Konfliktlösung?
  • Fehlerkultur: Werden Fehler als Lernchance gefeiert oder unter den Teppich gekehrt?
  • Psychologische Sicherheit: Trauen sich Mitarbeiter, auch Vorgesetzten gegenüber, kritische Themen anzusprechen, ohne negative Konsequenzen zu fürchten?

Praxisbeispiel: Das Hinweisgeberschutzgesetz als Lackmustest für die Wertekultur

Ein konkretes Beispiel für einen gelebten Wert ist der Umgang mit Missständen. Seit 2023 schafft das neue Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) in Deutschland einen rechtlichen Rahmen, um ernste Probleme wie Mobbing, Korruption oder Datenmissbrauch sicher zu melden. Unternehmen ab 50 Mitarbeitern sind verpflichtet, eine interne Meldestelle einzurichten. Die Existenz und aktive Bewerbung eines solchen Kanals ist ein starkes Signal dafür, dass das Unternehmen es mit der „Integrität“ ernst meint. Es bietet frustrierten Mitarbeitern ein offizielles Ventil, ohne Angst vor Sanktionen haben zu müssen, und zeigt, dass der Wert „Transparenz“ mehr als nur ein Wort auf einem Plakat ist.

Das Wichtigste in Kürze

  • Wut und Frust sind wertvolle Datensignale für unerfüllte Bedürfnisse oder verletzte Werte, keine Störfaktoren.
  • Der Schlüssel zur Souveränität ist die Analyse der Ursache (z. B. mit dem Vier-Ohren-Modell), nicht die Unterdrückung des Gefühls.
  • Eine gesunde Fehler- und Kommunikationskultur (psychologische Sicherheit) ist entscheidend für Innovation und Unternehmenserfolg.

Wie sagen Sie Ihrem Chef „Nein“ zu Überstunden, ohne Ihre Karriere zu gefährden?

Die Bitte nach Überstunden ist ein klassischer Moment, in dem der eigene Frust über eine hohe Arbeitsbelastung mit der Angst vor negativen Karrierefolgen kollidiert. Ein „Nein“ fühlt sich riskant an. Doch ein souveräner Umgang mit dieser Situation ist möglich und ein Zeichen von professionellem Selbstmanagement. Es geht nicht um eine generelle Arbeitsverweigerung, sondern um eine klare und lösungsorientierte Kommunikation Ihrer Grenzen. Der Schlüssel liegt darin, das „Nein“ nicht als Konfrontation, sondern als transparentes Management von Ressourcen und Prioritäten zu rahmen.

Rechtlich ist die Lage in Deutschland oft klarer als gedacht. In vielen Fällen können Mitarbeiter nicht einfach zu Überstunden gezwungen werden. Entscheidend ist, was im Arbeits- oder Tarifvertrag geregelt ist. Existiert im Unternehmen ein Betriebsrat, wird die Situation noch eindeutiger, denn die Anordnung von Überstunden ist zu 100 % mitbestimmungspflichtig. Ein Arbeitgeber kann diese also nicht ohne Zustimmung des Betriebsrats anordnen. Dieses Wissen stärkt Ihre Position, sollte aber nur das Fundament für ein diplomatisches Gespräch sein.

Anstatt eines flachen „Nein“ verwenden Sie eine kooperative Methode in drei Schritten: 1. Anerkennen und Wertschätzen: Zeigen Sie, dass Sie die Dringlichkeit verstehen. („Ich sehe, dass dieses Projekt sehr wichtig ist.“) 2. Transparenz schaffen (Fakten): Legen Sie Ihre aktuelle Auslastung dar. („Ich bin gerade voll auf die Fertigstellung von Projekt X konzentriert, um die Deadline morgen zu halten.“) 3. Lösung anbieten / Prioritäten erfragen: Bieten Sie eine Alternative an oder geben Sie die Entscheidung zurück. („Ich kann das gerne morgen früh als Erstes erledigen. Oder ist es dringender als Projekt X? Welche Aufgabe soll ich dafür zurückstellen?“) Mit diesem Ansatz verweigern Sie nicht die Arbeit, sondern zeigen Verantwortungsbewusstsein für Ihre bestehenden Aufgaben und zwingen zu einer professionellen Priorisierung. Sie agieren als mitdenkender Partner statt als reiner Befehlsempfänger.

Beginnen Sie noch heute damit, Ihre Emotionen als Kompass zu nutzen. Der erste Schritt ist nicht, ruhig zu bleiben, sondern genau hinzuhören, was Ihr Frust Ihnen sagen will. So verwandeln Sie eine Belastung in Ihren stärksten Verbündeten für eine erfolgreiche und gesunde Karriere.

Häufig gestellte Fragen zum Umgang mit Frust und Überstunden

Kann ich zu Überstunden gezwungen werden?

Nein, Beschäftigte können nicht einfach gezwungen werden, Überstunden zu machen. Dafür braucht es eine klare Grundlage im Arbeitsvertrag, einem anwendbaren Tarifvertrag oder eine absolute betriebliche Ausnahmesituation. Wenn Überstunden vertraglich nicht vereinbart sind, müssen sie grundsätzlich nicht geleistet werden, wie die IG Metall bestätigt.

Was kann der Betriebsrat bei Überstunden tun?

Wenn im Betrieb ein Betriebsrat besteht, hat dieser ein umfassendes Mitbestimmungsrecht. Er muss vor jeder Anordnung von Überstunden beteiligt werden und verhandelt die Bedingungen. Überstunden, die der Arbeitgeber ohne Beteiligung des Betriebsrates angeordnet hat, müssen von den Beschäftigten nicht geleistet werden.

Gibt es eine gesetzliche Höchstgrenze für die Arbeitszeit?

Ja, das deutsche Arbeitszeitgesetz (ArbZG) sieht eine tägliche Höchstarbeitszeit von acht Stunden vor. Diese kann auf bis zu zehn Stunden verlängert werden, aber nur, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.

Geschrieben von Dr. Johanna Behrendt, Diplom-Psychologin und Executive Coach für New Work und Führungskräfteentwicklung. Über 15 Jahre Erfahrung in der Begleitung von Veränderungsprozessen in DAX-Konzernen und dem Mittelstand.